§ 2 Abs. 1a SGB V: Notstand

Nach der Begutachtungsanleitung NUB des GKV-Spitzenverbandes und des MDS (jetzt: MD Bund) soll eine potentielle Lebensbedrohung (oder eine gleichgestellte Beeinträchtigung der körperlichen Unversehrtheit) in ferner Zukunft nicht dem Kriterium einer verfassungskonformen Auslegung des Leistungsanspruchs in notstandsähnlichen Situationen entsprechen.

Demgegenüber hatte das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluss vom 06.02.2007 (Aktenzeichen 1 BvR 3101/06) zu einer strittigen Lipidapherese-Behandlung erklärt:

“Der Annahme eines lebensbedrohlichen Zustands des Beschwerdeführers steht […] nicht entgegen, dass die koronare Herzerkrankung noch nicht das Stadium einer akuten Lebensgefahr erreicht hat.”

Weiter heißt es in diesem Beschluss:

… dass eine Krankheit auch dann als regelmäßig tödlich zu qualifizieren ist, wenn sie “erst” in einigen Jahren zum Tod des Betroffenen führt.”

Begründet wird dies durch die Verfassungsrichter mit dem zu erwartenden Krankheitsverlauf, der ohne die beantragte Behandlung “mit hoher Wahrscheinlichkeit” zur Entwicklung eines Zustandes akuter Lebensgefahr führen werde. Auf die in diesem Stadium dann zur Verfügung stehenden intensivmedizinischen Behandlungsmöglichkeiten könne der Patient nicht verwiesen werden.

Diesen Aspekt der vorhandenen oder nicht vorhandenen zeitlichen Nähe einer möglichen Lebensbedrohung griff ein Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 19.03.2014 (L 5 KR 1496/13) auf, in dem es hieß:

Entgegen der Auffassung der Beklagten (und des MDK, etwa Gutachten des Dr. G. vom 05.10.2009) scheitert die Leistungsgewährung auch nicht am Erfordernis einer durch nahe Lebensgefahr gekennzeichneten individuellen Notlage. Das BVerfG hat hierfür ersichtlich stets auf den Einzelfall abgestellt und eine rein zeitliche Betrachtung nicht vorgenommen, etwa auch ausreichen lassen, dass in Sonderfällen der Tod voraussichtlich erst in einigen Jahren eintreten wird (Beschl. v. 06.02.2007; 1 BvR 3101/06).

Ähnliches hatte auch das LSG-Niedersachsen-Bremen in der Begründung eines Beschlusses vom 07.03.2011 (L 4 KR 48/11 B ER) ausgeführt:

1. Es ist mit dem staatlichen Schutzauftrag für Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) nicht vereinbar, die Pflicht des Staates zur Bereitstellung von Leistungen außerhalb des Leistungskataloges der gesetzlichen Krankenversicherung auf Situationen zu beschränken, in denen der Tod des Versicherten kurz bevorsteht, er sich also in einer notstandsähnlichen Situation befindet. 2. Eine Leistungspflicht besteht nach grundrechtsorientierter Auslegung vielmehr auch in den Fällen, in denen eine schwerwiegende Erkrankung vorliegt, die ohne rechtzeitige Behandlung aller medizinischen Voraussicht nach die körperliche Unversehrtheit des Versicherten auf Dauer nachhaltig und gravierend beeinträchtigen würde.

Eine andere Bewertung der zeitlichen Nähe der Lebensbedrohlichkeit wird vielfach aus dem Nichtannahme-Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11. April 2017 1 BvR 452/17 herausgelesen. In diesem Beschluss wurde zwar bekräftigt, dass ein verfassungsunmittelbarer Anspruch auf Krankenversorgung bestehen kann, wenn in Fällen einer lebensbedrohlichen Erkrankung vom Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung umfasste Behandlungsmethoden nicht vorliegen, eine andere Behandlungsmethode aber eine Aussicht auf Besserung verspricht.
Jedoch führte das BVerfG in seiner entsprechenden Pressemitteilung folgendes aus:

Allerdings würde es dem Ausnahmecharakter eines solchen Leistungsanspruchs nicht gerecht, wenn man diesen in großzügiger Auslegung der Verfassung erweitern würde. Die notwendige Gefährdungslage liegt erst in einer notstandsähnlichen Situation vor. Anknüpfungspunkt eines derartigen verfassungsrechtlich gebotenen Anspruchs ist deswegen allein das Vorliegen einer durch nahe Lebensgefahr gekennzeichneten individuellen Notlage.

Allerdings bezog sich das Bundesverfassungsgericht hier ausschließlich darauf, ob im zugrundeliegenden Einzelfall eine verfassungsrechtliche Frage überhaupt zu klären war. Und zu dieser Frage hatte das Bundesverfassungsgericht bereits 2015 eine eindeutige Stellung bezogen in einem anderen Nichtannahme-Beschluss: 1 BvR 2056/12 (s.u.).
So heißt es auch im Volltext der veröffentlichten Entscheidung (Beschluss vom 11. April 2017 -BvR 452/17):

“Im Beschluss vom 10. November 2015 hat das Bundesverfassungsgericht die enge Begrenzung dieses verfassungsunmittelbaren Anspruchs klarstellend betont. Danach ist es nicht geboten, die Grundsätze des Beschlusses vom 6. Dezember 2005 schon von Verfassungs wegen auf Erkrankungen zu erstrecken, die wertungsmäßig mit lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlich verlaufenden Erkrankungen vergleichbar sind. […]
Ausgehend von diesen Grundsätzen hat die Beschwerdeführerin eine mögliche Grundrechtsverletzung nicht hinreichend substantiiert geltend gemacht.
Die Fachgerichte sind zu Recht davon ausgegangen, dass ein Mittel, das potentiell letale Komplikationen hinreichend zuverlässig verhindern kann, einen entsprechenden Anspruch ausschließt. … fehlt es an einer notstandsähnlichen Lage und damit an hinreichenden Gründen, um den gesetzgeberischen Spielraum bei der Ausgestaltung des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung durch einen unmittelbar aus der Verfassung abgeleiteten Anspruch zu überspielen.
Der von der Beschwerdeführerin geltend gemachte verfassungsunmittelbare Anspruch besteht daher nicht, …”

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