Anerkannter Stand der medizinischen Erkenntnisse

In § 2 Abs. 1 Satz 3 SGB V wird ausdrücklich festgelegt, dass im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung nur solche medizinische Maßnahmen zur Anwendung kommen dürfen, deren Qualität und Wirksamkeit dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnis entsprechen und die wirtschaftlich im Sinne des § 12 Abs. 1 SGB V sind.

Der allgemein anerkannte Stand der medizinischen Erkenntnisse lässt sich z.B. medizinischen Leitlinien oder der anerkannten Fachliteratur entnehmen.
Allerdings sind medizinische Leitlinien nicht immer unumstritten oder von hoher methodischer Qualität. Fachbücher enthalten oftmals Aussagen, die nicht durch Evidenz gestützt sind. Manche Fachbücher vertreten sogar Einzelmeinungen, die von einem Großteil der Vertreter der betroffenen Fachrichtung nicht geteilt werden. Fachbücher existieren auch zu Themen und Behandlungsmethoden, für die es keine naturwissenschaftlichen Grundlagen gibt (z.B. Homöopathie) oder deren Grundlagen und Konzepte sehr umstritten sind (z. B. kraniale Osteopathie), so dass es in der Realität oft kaum eindeutig feststellbar ist, wie der allgemein anerkannte Stand der medizinischen Erkenntnisse bezüglich einer Fragestellung zu definieren ist.
Neben wissenschaftlich strittigen Auffassungen bestehen auch Probleme hinsichtlich der Ermittlung des aktuell allgemein anerkannten Stands der medizinischen Erkenntnisse, da dieser durch neue Erkenntnisse verändert wird, die aber nicht immer sofort allgemein bekannt werden und Anerkennung finden.
Darüber hinaus gibt es manche, durchaus weit verbreitete, wissenschaftliche Mythen, die nicht immer einfach als solche zu entlarven sind. Dies kann dazu führen, dass ein wissenschaftlicher Mythos als allgemein anerkannter Stand der medizinischen Erkenntnisse definiert wird, obgleich die dahinterstehenden Theorien und Annahmen sich mit wissenschaftlichen Methoden widerlegen lassen.

Weiterhin ist zu bedenken, dass eine experimentelle Behandlung innerhalb einer klinischen Studie an Menschen auf der Grundlage des, zum Zeitpunkt der Studienplanung vorhandenen, Standes der wissenschaftlichen Erkenntnisse geschehen muss.
Nur eine experimentelle Behandlung auf dem Stand der vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnisse kann von einer Ethikkommission empfohlen werden. Es handelt sich bei klinischen Studien somit um Grenzfälle: Es sprechen zwar ausreichend Fakten für die Erprobung, die Anwendung ist aber gerade aufgrund des Standes der medizinischen Erkenntnisse in ihren Wirkungen und Nebenwirkungen noch nicht als ausreichend erforscht zu betrachten.
Damit kann eine experimentelle Behandlung im Rahmen klinischer Studien mit dem allgemein anerkannter Stand der medizinischen Erkenntnisse vereinbar sein, ohne jedoch selbst den allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse zu repräsentieren.
Dennoch bleibt festzuhalten, dass eine Behandlung, deren Erprobung in einer gut geplanten klinischen Studie auf dem Boden des aktuellen wissenschaftlichen Standes bereits von einer Ethikkommission grundsätzlich befürwortet wurde, nicht außerhalb des medizinischen Erkenntnisstandes erfolgt – es aber möglich ist, dass sich eben diese Behandlung infolge der Studienergebnisse später als möglicherweise unwirksam oder schädlich oder den bereits besser erprobten Vergleichstherapien unterlegen erweist.
Damit scheint an den Grenzen des sich ständig fortentwickelnden Standes der medizinischen Erkenntnisse für die Beantwortung der Frage, ob eine Behandlung gemäß dem allgemein anerkannten Stand der medizinischen Erkenntnisse erfolgt, die Qualität und Verantwortbarkeit einer experimentellen Therapie entscheidend für eine sozialmedizinische Einschätzung zu sein.

Im fünften Sozialgesetzbuch weisen § 2 SGB V und § 70 Abs. 1 und 2 SGB V spezifisch darauf hin, dass medizinische Leistungen im Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung unter Einhaltung der fachlich gebotenen Qualität sowie unter Beachtung der Prinzipien einer humanen Krankenversorgung erfolgen sollen.

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