Begrifflichkeiten
Der Begriff „Rezepturarzneimittel“ ist in den Begriffsbestimmungen des deutschen Arzneimittelgesetzes (AMG) nicht definiert. Er steht im Gegensatz zu den zulassungspflichtigen Fertigarzneimitteln (AMG § 4 Abs. 1: „Fertigarzneimittel sind Arzneimittel, die im Voraus hergestellt und in einer zur Abgabe an den Verbraucher bestimmten Packung in den Verkehr gebracht werden oder andere zur Abgabe an Verbraucher bestimmte Arzneimittel, bei deren Zubereitung in sonstiger Weise ein industrielles Verfahren zur Anwendung kommt oder die, ausgenommen in Apotheken, gewerblich hergestellt werden.“)
Apotheken dürfen unter bestimmten Voraussetzungen für einzelne Personen Rezepturarzneimittel herstellen.
Die Apothekenbetriebsordnung definiert Rezepturarzneimittel in § 1a Abs. 8 ApBetrO folgendermaßen:
“Rezepturarzneimittel ist ein Arzneimittel, das in der Apotheke im Einzelfall auf Grund einer Verschreibung oder auf sonstige Anforderung einer einzelnen Person und nicht im Voraus hergestellt wird.”
Aspekte des Patientenschutzes und der Arzneimittelsicherheit sind auch bei Rezepturarzneimitteln zu beachten: Das Verbot der Abgabe von bedenklichen Arzneimitteln im Arzneimittelgesetz gilt auch für Rezepturarzneimittel.
Diesbezüglich wird von der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK) unregelmäßig eine Liste der “Bedenklichen Rezepturarzneimittel” herausgegeben, die auch über die Webseiten der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft als “Bedenkliche Rezepturarzneimittel – Tabelle der AMK” abrufbar ist.
Darüber hinaus ist auch bei Verordnung von Rezepturen – unabhängig von weiteren sozialrechtlichen Erwägungen – das Wirtschaftlichkeitsgebot zu beachten.
In einem Urteil des Bundessozialgerichts vom 17.02.2016 (B 6 KA 3/15 R) wurde von den BSG-Richtern hierzu unter anderem folgendes erläutert:
“Ein Vertragsarzt kann verpflichtet sein, Arzneimittel zur Anwendung an seinen Patienten selbst gebrauchsfertig zu machen, statt diese zur Anfertigung als Rezeptur durch eine Apotheke zu verordnen, weil dies regelmäßig kostengünstiger und damit (allein) wirtschaftlich ist (…).
In begründeten Ausnahmefällen kann es aus Sachgründen – insbesondere wegen der Eigenart des zuzubereitenden Arzneimittels – geboten sein, die Zubereitung nicht in der Arztpraxis, sondern in einer Apotheke durchzuführen. Wäre dies der Fall, entfiele die Verpflichtung des Vertragsarztes, das Medikament selbst gebrauchsfertig zu machen, und damit zugleich die entsprechende Handlungsalternative, deren Bestehen Voraussetzung für die Feststellung des unwirtschaftlichen Handelns bei Anforderung der fertigen Mischung als Rezeptur von der Apotheke ist; zugleich fehlte es dann an einer “besonderen Konstellation” im (…) dargestellten Sinne.“
Abzugrenzen von der Rezeptur-Herstellung sind gemäß der Ausführungen in dem oben genannten BSG-Urteil also so genannte Rekonstitutionen – einfache Maßnahmen der Aufbereitung von Fertigarzneimitteln, die problemlos in der Arztpraxis durchgeführt werden können und nicht dem pharmazeutischen Bereich zuzuordnen sind, wie z.B. das Anrühren pulverförmiger Arzneimittel oder die Verdünnung konzentrierter Fertigarzneimittel mit Wasser oder Kochsalzlösung zur infusionsfertigen Applikation.
Die Frage, ob ein Arzneimittel eine Rezeptur oder eine Rekonstitution ist oder nicht, ist nicht immer eindeutig zu beantworten. So werden z.B. Zytostatika und Parenteralia abrechnungstechnisch eindeutig als Rezepturarzneimittel behandelt, obwohl es sich in aller Regel um Fertigarzneimittel handelt, die lediglich einer speziellen, auf den einzelnen Patienten abgestimmten Dosierung und Vorbereitung vor der Anwendung bedürfen.
Weiter abzugrenzen sind auch so genannte Defekturarzneimittel. Die Apothekenbetriebsordnung definiert Defekturarzneimittel in § 1a Abs. 8 ApBetrO folgendermaßen:
“Defekturarzneimittel ist ein Arzneimittel, das im Rahmen des üblichen Apothekenbetriebs im Voraus an einem Tag in bis zu hundert abgabefertigen Packungen oder in einer diesen entsprechenden Menge hergestellt wird.“
Die Herstellung von Defekturarzneimitteln erfolgt also nicht erst “nach” der ärztlicher Verschreibung für einen bestimmten Patienten, sondern schon vor Eingang solcher Verschreibungen, mithin “auf Vorrat“. Defekturarzneimittel sind quasi Fertigarzneimittel, die der herstellende Apotheker ohne behördliche Zulassung in den Verkehr bringen darf (vgl. § 21 Abs. 2 Nr. 1 AMG), sofern sich das “in den Verkehr bringen” auf die Abgabe im Rahmen der Apothekenbetriebserlaubnis beschränkt; das heißt, die Defekturarzneimittel dürfen zulassungsfrei nur an Kunden der herstellenden Apotheke abgegeben werden.
So genannte “Standardrezepturen” sind Rezepturen mit speziellen Apotheken-Herstellungsvorschriften. Man findet sie insbesondere im Deutschen Arzneimittel-Codex (DAC) oder Neuen Rezeptur-Formularium (NRF). Der Wortteil “Standard” bezieht sich hier lediglich auf ein standardisiertes Herstellungsverfahren, nicht jedoch auf Wirksamkeit und Verordnungsfähigkeit.
Nicht alle Rezepturen sind Standardrezepturen und nicht alle Standardrezepturen sind im DAC oder NRF aufgeführt!
Die Arzneimittelpreisverordnung (AMPreisV) führt “Preisspannen sowie die Preise für besondere Leistungen der Apotheken (§§ 4 bis 7)” auf.
Für Rezepturen können die Apotheken gemäß § 5 AMPreisV Apothekenzuschläge für Zubereitungen aus Stoffen in Rechnung stellen (“taxieren”).
Klärung der Verordnungsfähigkeit zu Lasten der GKV
Formale Produkt-Klärung
Die sozialmedizinische Begutachtung von Rezepturen jeglicher Art muss im Prinzip dem gleichen Schema folgen, das auch bei Fertigarzneimitteln zugrunde gelegt wird. Die Tatsache, dass es sich um ein Rezeptur- und nicht um ein Fertigarzneimittel handelt, ist zunächst unerheblich.
Im ersten Schritt kann eine formale Prüfung hinsichtlich der Einordnung der eingesetzten Produkte der Arzneimittelversorgung erfolgen.
Wenn es sich nach einer ersten formalen Prüfung bei einem Rezepturarzneimittel um eine, grundsätzlich verkehrsfähige bzw. arzneimittelrechtlich zulässige Arzneimittelrezeptur handelt, kann die Rezeptur grundsätzlich zu Lasten der GKV verordnungsfähig sein.
Rezepturen sind nicht grundsätzlich von der Verordnungsfähigkeit im System der gesetzlichen Krankenversicherung ausgenommen.
Dies lässt sich u.a. dem § 11 Abs. 2 der Arzneimittelrichtlinie entnehmen, der folgende Bestimmung enthält:
“Die behandelnde Ärztin oder der behandelnde Arzt kann Arzneimittel nach Handelsnamen (Warenzeichen) oder Wirkstoffnamen (generische Bezeichnung) oder als Rezeptur verordnen.”
Um die Frage der Verordnungsfähigkeit einer Arzneimittelrezeptur zu klären, bedarf es daher dann einer Prüfung im Hinblick auf § 135 SGB V (Bewertung von Untersuchungs- und Behandlungsmethoden), wenn bezüglich eines Rezeptur-Arzneimittels ein “Methodencharakter” nicht auszuschließen ist:
Prüfung des “Methodencharakters” eines Rezepturarzneimittels
“Alte Rezeptur” (bekannt vor dem 01.01.1989)
Sozialrechtlich ist bei Fragen nach der Kostenübernahme der GKV für ein Rezepturarzneimittel zunächst zu prüfen, ob es sich um eine alt-eingeführte Rezeptur handelt, die bereits vor dem 01.01.1989 bekannt war und eingesetzt wurde.
Bei Rezepturen, die im Neuen Rezepturformularium (NRF) aufgeführt werden, kann die Information über das Ursprungsdatum oder das “Alter” einer Rezeptur dort aufgefunden werden.
Bei anderen Rezepturen muss die Recherche in Abhängigkeit von der Indikation und dem betroffenen Fachgebiet weitere Quellen einschließen.
Hinweise auf, in der Dermatologie bekannte/anerkannte und regelmäßig eingesetzte Rezepturen sowie weitere Erläuterungen zu Rezepturen finden sich auch in Altmeyers Enzyklopädie Dermatologie.
Bei Rezepturen, die bereits vor dem 01.01.1989 bekannt waren und eingesetzt wurden, ist zusätzlich zu prüfen,
- ob eine nachträgliche Bewertung des Rezepturarzneimittels unter Betrachtung des Methoden-Aspekts nach § 135 Abs. 1 SGB V zu einem negativen Ergebnis kam und in der Richtlinie Methoden vertragsärztliche Versorgung (früher BUB-Richtlinie) ein Ausschluss des Arzneimittels von der vertragsärztlichen Versorgung aufgenommen wurde.
- ob für einen der arzneilich wirksamen Bestandteile eine negative Bewertung oder Zulassungsversagung durch eine zuständige Arzneimittelbehörde (BfArM oder die Europäische Arzneimittelbehörde EMA) ausgesprochen wurde.
- ob ein Ausschluss von der Verordnungsfähigkeit aufgrund von § 34 SGB V vorliegt.
- ob es sich um eine bedenkliche Rezeptur gemäß Tabelle der als bedenklich eingestuften Stoffe und Rezepturen der Arzneimittelkommission der Deutschen Apotheker (AMK) handelt.
- ob die Anwendung der eingesetzten Substanzen außerhalb der anerkannten Therapieprinzipien erfolgt.
“Neue Rezeptur” (bekannt/verwendet nach dem 01.01.1989)
Bei Rezepturen, die erst nach dem 01.01.1989 bekannt waren und eingesetzt wurden, ist ebenfalls zu prüfen, ob eine Methoden-Bewertung des Rezepturarzneimittels nach § 135 Abs. 1 SGB V bereits vorgenommen oder vom G-BA geplant wurde. Falls kein Methoden-Bewertungsverfahren dokumentiert ist, so ist weiter zu prüfen, ob es sich bei dem neuen Rezepturarzneimittel um eine Neue Methode handeln könnte bzw. dem Rezepturarzneimittel ein “Methodencharakter” zukommen könnte/zukommt.
BSG-Rechtsprechung
In einem Urteil vom 23.07.1998 formulierte das Bundessozialgericht (BSG Az. B 1 KR 19/96 R), dass auch Arzneitherapien Behandlungsmethoden sein können. Wenn eine Arzneitherapie eine Behandlungsmethode darstellt, muss sie vor Aufnahme in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zunächst von dem dafür zuständigen “Gemeinsamen Bundesausschuss” (G-BA) evaluiert werden.
Das Bundessozialgericht führte aus, dass bei Fertigarzneimitteln eine umfassende Evaluation im Rahmen des arzneimittelrechtlichen Zulassungsverfahrens erfolge, weswegen die arzneimittelrechtliche Zulassung im Regelfall die Voraussetzung für einen Leistungsanspruch von GKV-Versicherten schaffen würde (vgl. auch z.B. das – viel später ergangene – BSG-Urteil vom 27. September 2005 – B 1 KR 6/04 R).
Das Urteil vom 23.07.1998 stellte eine Fortentwicklung der bisherigen Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes dar. So hieß es wörtlich in diesem Urteil (B 1 KR 19/96 R; auch Jomol-Urteil genannt):
“Der Senat hat bisher die Verordnungsfähigkeit eines Arzneimittels im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung allerdings nur für Fälle verneint, in denen dem in Rede stehenden Präparat die nach dem AMG erforderliche Zulassung zum Verkehr von der zuständigen Bundesoberbehörde (früher: Bundesgesundheitsamt; jetzt: Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte) ausdrücklich versagt worden war […] Diese Situation besteht in gleicher Weise, wenn ein Zulassungsverfahren (noch) nicht durchgeführt wurde. […] Der Einwand der Revision, mit der Anknüpfung an das Zulassungserfordernis des Arzneimittelrechts werde der Anwendung alternativer Arzneitherapien in der Krankenversicherung der Boden entzogen, ist nicht nachvollziehbar; daß derartige Therapien von den ansonsten für die Anwendung von Arzneimitteln geltenden Vorschriften freizustellen seien, läßt sich dem Gesetz nicht entnehmen. […] Die geltend gemachten Behandlungskosten wären aber auch dann nicht von der Beklagten zu tragen, wenn Jomol entsprechend dem Vorbringen der Revision nicht als Fertigarzneimittel, sondern als ein für den jeweiligen Behandlungsfall nach ärztlicher Verordnung zusammengestelltes und damit nach dem AMG zulassungsfreies Rezepturarzneimittel einzustufen wäre. Dem Erstattungsbegehren der Klägerin stünde dann § 135 Abs 1 Satz 1 SGB V entgegen; denn danach dürfen neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden in der vertragsärztlichen Versorgung zu Lasten der Krankenkassen nur erbracht werden, wenn der Bundesausschuß der Ärzte und Krankenkassen in Richtlinien nach § 92 Abs 1 Satz 2 Nr 5 SGB V Empfehlungen u.a. über die Anerkennung des diagnostischen und therapeutischen Nutzens der neuen Methode sowie deren medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit abgegeben hat.”
Auf die Ausführungen des genannten Urteils vom 23.07.1998 (BSG – B 1 KR 19/96 R) stützt sich seither die Auffassung, dass Arzneitherapien mittels neuer Rezepturen eine neue Untersuchungs- und Behandlungsmethode darstellen können und dann nach § 135 SGB V der Evaluation durch den G-BA bedürfen.
Dies wurde in der weiteren Rechtsprechung des Bundessozialgerichts an verschiedenen Stellen bekräftigt. In einem BSG-Urteil zum Off-Label-Use (B 1 KR 37/00 R) vom 19.03.2002 finden sich folgende Ausführungen zu Rezepturarzneimitteln:
“Nach der Rechtsprechung des Senats unterliegen zwar im Prinzip auch Pharmakotherapien der für vertragsärztliche Leistungen in § 135 Abs 1 SGB V vorgesehenen Qualitätsprüfung. […] Für Arzneitherapien gilt der Erlaubnisvorbehalt des § 135 Abs 1 SGB V jedoch nur, soweit es sich um die Anwendung von Rezepturarzneien oder anderen Arzneimitteln handelt, die im Einzelfall auf besondere Anforderung hergestellt werden. Da solche Präparate keine Zulassung nach dem AMG benötigen, bliebe die Qualitätskontrolle in der ambulanten vertragsärztlichen Versorgung lückenhaft, wenn ihre Wirksamkeit und Unbedenklichkeit weder nach Arzneimittelrecht noch nach Krankenversicherungsrecht geprüft würden.“
Generell gilt:
Die Verordnungsfähigkeit eines Arzneimittels zu Lasten der gesetzlichen Krankenversicherung folgt nicht automatisch aus der Verkehrsfähigkeit eines Arzneimittels oder einer Arzneimittelrezeptur (auch dann nicht, wenn das Arzneimittel grundsätzlich nach Arzneimittelverschreibungsverordnung rezeptpflichtig ist)!
So war z. B. vom Bundessozialgericht in mehreren Urteilen zu dem so genannten Alt-Arzneimittel “Wobe Mugos” (BSG, 05.11.2008 – B 6 KA 63/07 R, BSG, 06.05.2009 – B 6 KA 3/08 R) festgestellt worden, dass dieses Arzneimittel nicht hinsichtlich Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit nach dem allgemeinen Stand der medizinischen Erkenntnisse auf Grundlage zuverlässiger wissenschaftlich nachprüfbarer Aussagen geprüft worden sei: Da eine Prüfung analog zu den Methodenüberprüfungen nach § 135 SGB V nicht stattgefunden habe, sei das Arzneimittel trotz weiterhin bestehender Verkehrsfähigkeit spätestens seit dem Versagen der Nachzulassung durch das BfArM nicht mehr zu Lasten der GKV verordnungsfähig gewesen.
Eine kurze Darstellung der Problematik durch Rechtsanwalt Prof. Dr. Bernd Halbe findet sich in dem Beitrag Arzneimittelrecht-aktuell: Alt-Arzneimittel nicht grundsätzlich verordnungsfähig.
Anmerkung: Ab 2004 war das Arzneimittel “Wobe-Mugos” durch die Herausnahme rezeptfreier Medikamente von den GKV-Leistungen in § 34 Abs 1 Satz 2 SGB V als reines Arzneimittel explizit von der Verordnungsfähigkeit in der GKV ausgeschlossen. Es hätte daher ab dieser Gesetzesänderung nur dann überhaupt eine Leistung der GKV sein können, wenn es als Methode positiv bewertet worden wäre.
Bei Rezepturen mit – grundsätzlich aufgrund der Arzneimittelverschreibungsverordnung bestehender Rezeptpflicht – könnte eine arzneimittelrechtliche Zulassung der eingesetzten Rezepturbestandteile als Nachweis der Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit dienen.
Im Hinblick auf den “allgemein anerkannten Stand” erscheint es bei einer Vielzahl von breit eingesetzten Rezepturen nicht nachvollziehbar, dass bei diesen eine Notwendigkeit der Methodenbewertung besteht, zumal eine solche dann auch für alle Zytostatika- und Parenteralia-Rezepturen zu fordern wäre.
Einem Urteil des Bundessozialgerichts vom 19.10.2004 (Az.: B 1 KR 27/02) zur Photodynamischen Therapie (PDT) ist folgendes zu entnehmen:
“Nach der jüngeren Rechtsprechung unterliegen ambulant durchgeführte Pharmakotherapien dem Erlaubnisvorbehalt des § 135 Abs. 1 SGB V nur dann, wenn die eingesetzten Präparate keine Zulassung nach dem AMG benötigen, wie das beispielsweise bei Rezepturarzneien oder anderen Arzneimitteln der Fall ist, die für den einzelnen Patienten auf besondere Anforderung hergestellt werden (BSGE 82, 233 = SozR 3-2500 § 31 Nr. 5 – Jomol; BSGE 86, 54 = SozR 3-2500 § 135 Nr 14 – ASI)…”
Ausführungen zum Status von Rezeptur-Arzneimitteln finden sich auch in dem BSG-Urteil (B 1 KR 30/06 R) vom 27.03.2007 zu Cannabinoiden als Rezepturarzneimittel zur Schmerztherapie:
“Nach der Rechtsprechung des Senats dürfen die Krankenkassen indes ihren Versicherten eine neuartige Therapie mit einem Rezepturarzneimittel, die vom G-BA bisher nicht empfohlen ist, grundsätzlich nicht gewähren, weil sie an das Verbot des § 135 Abs 1 SGB V und die das Verbot konkretisierenden Richtlinien des G-BA gebunden sind (…).”
Weitergehende und die Interpretation der älteren Urteile beeinflussende und auch teilweise modifizierende Hinweise ergeben sich aus dem BSG-Urteil (B 6 KA 48/09 R) vom 13.10.2010 zu Dronabinol als Rezepturarzneimittel zur Behandlung einer Tumorkachexie:
“Dronabinol ist ein sog Rezepturarzneimittel und als solches nach dem AMG aufgrund der erteilten Herstellungserlaubnis (§ 13 AMG) auch verkehrsfähig, ohne dass eine Überprüfung seiner Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit nach dem AMG stattfinden musste oder stattgefunden hat…
Mit der Verkehrsfähigkeit sind Rezepturarzneimittel zugleich auch verordnungsfähig, es sei denn, nach anderen Regelungen ist ein Anerkennungsverfahren erforderlich. Dies ist gemäß § 135 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB V der Fall, wenn der Einsatz des Arzneimittels Gegenstand einer neuen Arzneitherapie im Sinne dieser Regelung [= im Sinne von § 135 SGB V] ist, für die dann entsprechend den Vorgaben dieser Vorschrift eine empfehlende Richtlinie erforderlich ist (…).
Dementsprechend bedurfte es für den Einsatz von Dronabinol grundsätzlich einer anerkennenden Richtlinie gemäß § 135 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB V. Denn es handelte sich um eine neue Arzneitherapie.
[…]
Neu ist eine Behandlungsmethode zunächst dann, wenn sie erst nach Inkrafttreten des § 135 Abs 1 Satz 1 SGB V – also erst in der Zeit seit dem 1.1.1989 – als kassen- bzw vertragsärztliche Behandlungsmethode praktiziert worden ist. Neu ist auch eine Behandlungsmethode, für die eine entsprechende Leistungsposition im Einheitlichen Bewertungsmaßstab für ärztliche Leistungen (EBM-Ä) zunächst nicht bestand, diese vielmehr erst später – nach dem 1.1.1989 – in das Leistungsverzeichnis des EBM-Ä aufgenommen wurde (…).
Nach diesen Abgrenzungen ist bei Arzneitherapien (…) darauf abzustellen, ob sie schon vor dem 1.1.1989 oder erst nach dem 1.1.1989 praktiziert wurden. Wurden sie schon vorher praktiziert, so sind sie nicht neu; dann käme nur eine Überprüfung durch den § 135 Abs 1 Satz 2 SGB V in Betracht, wonach die Verordnungsfähigkeit erst ausgeschlossen wäre, wenn der G-BA die Methode ausdrücklich für unvereinbar mit den Erfordernissen des § 135 Abs 1 Satz 1 Nr 1 SGB V erklärt hatte (§ 135 Abs 1 Satz 3 SGB V).“
Prüfung singuläre Erkrankung – Hinweise Systemversagen – BVerfG-Beschluss 06.12.2005:
In den oben genannten Urteilen hat das BSG ausgeführt, dass eine Anwendung einer neuen Arzneitherapie mit einem Rezepturarzneimittel, das einer Neuen Methode entspricht, nur ausnahmsweise auch ohne empfehlende Richtlinie des G-BA in Frage kommt wenn:
- eine singuläre Erkrankung vorliegt oder
- ein Systemversagen gegeben ist oder
- die BVerG-Kriterien vom 06.12.2005 oder
- die Kriterien des § 2 Abs. 1a SGB V erfüllt sind.
Hinweise zum Vorgehen diesbezüglich finden sich in den folgenden, vom Medizinischen Dienst des GKV-Spitzenverbandes (MDS) auf seiner Homepage bereitgestellten Begutachtungsanleitungen bzw. Arbeitshilfen:
- Begutachtungsanleitung Außervertragliche Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (NUB) ohne Fertigarzneimittel (Begutachtungsanleitung NUB) mit den entsprechenden Anlagen
- Begutachtungsanleitungen zu Arzneimitteln
Die Begutachtungsanleitung Neue Untersuchungs- und Behandlungsmethoden (PDF) enthält auch Ausführungen zum Vorgehen bei Hinweisen auf ein Systemversagen. Danach kann grundsätzlich nur ein Gericht feststellen, ob ein Systemversagen vorliegt. In einer sozialmedizinischen Begutachtung kann daher nur diskutiert werden, ob Hinweise auf ein Systemversagen angenommen werden können oder eher nicht.