Soziale Medizin

Salomon Neumann (1819 – 1908) gilt als einer der wichtigsten Vordenker und Urheber der “sozialen Medizin”.

Salomon Neumann sah in der öffentlichen Gesundheitspflege eine Pflicht des Staates – und die Gesundheit als “kostbarstes Eigentum” der Staatsbürger. Seine Gedanken veröffentliche er 1847 unter dem Titel: Die öffentliche Gesundheitspflege und das Eigenthum: Kritisches und Positives mit Bezug auf die preußische Medizinalverfassungs-Frage.

Auf Salomon Neumann geht die Charakterisierung von Medizin als “sociale Wissenschaft” zurück. Der Satz “Medicin ist eine Sociale Wissenschaft” ist auf der Salomon-Neumann-Medaille eingeprägt , die von der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention e. V. seit 1986 für besondere Verdienste um die Präventiv- und Sozialmedizin verliehen wird.

Der Mitherausgeber der Wochenschrift Die medicinische Reform, Rudolf Leubuscher, schrieb in der Ausgabe vom 21. Juli 1848:
Der Staat d. h. die Gesammtheit der Individuen hat die Verpflichtung längst erkannt, das feststehende Eigenthum eines jeden Einzelnen zu schützen, aber in der Anerkennung der Verpflichtung, das physische Wohl der Staatsbürger, ihre Gesundheit, ihre kostbarstes Eigenthum, zu wahren, das natürliche, angeborne Recht eines jeden Menschen, wird die medicinische Gesetzgebung noch viele Lücken auszufüllen haben…”

  • Rudolf Leubuscher: “Zur Reform der Sanitätspolizei”, in: Die medicinische Reform. Eine Wochenschrift, erschienen vom 10. Juli 1848 bis zum 29. Juni 1849, Reprint, Berlin 1983, S. 11.

Ungefähr 150 Jahre nach der Publikation von Salomon Neumanns Werk zur öffentlichen Gesundheitspflege und dem Eigentum formulierte das Bundesverfassungsgericht in einem Beschluss am 06.12.2005 (Az. 1 BvR 347/98) folgendes:

Maßstab für die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung und seiner fachgerichtlichen Auslegung und Anwendung im Einzelfall sind … die Grundrechte auf Leben und körperliche Unversehrtheit aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG. … Die Gestaltung des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung hat sich … an der objektiv-rechtlichen Pflicht des Staates zu orientieren, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG zu stellen.

Dies gilt insbesondere in Fällen der Behandlung einer lebensbedrohlichen oder regelmäßig tödlichen Erkrankung. Denn das Leben stellt einen Höchstwert innerhalb der grundgesetzlichen Ordnung dar …

Die Formulierungen des Bundesverfassungsgerichts erinnern an die Formulierungen Neumanns und Leubuschers. Der Beschluss des Bundesverfassungsgericht vom 6.12.2005 stellte klar, dass die (notwendige) Leistungsbegrenzung in der gesetzlichen Krankenversicherung unter ausreichender Berücksichtigung der Grundrechte und des Sozialstaatsprinzips erfolgen muss.

Anders als das Rechtsstaatsprinzip wird das Sozialstaatsprinzip nur an wenigen Stellen des Grundgesetzes im Einzelnen konkretisiert. Dies wird von der Bundeszentrale für politische Bildung folgendermaßen erklärt:

Die Ausgestaltung sozialer Gerechtigkeit lässt sich nicht ein für alle Mal verbindlich definieren. Sie hängt vielmehr ab von der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung sowie dem gesellschaftlichen Bewusstsein. Das Sozialstaatsprinzip ist somit ein dynamisches Prinzip, das den Gesetzgeber verpflichtet, die sozialen Verhältnisse immer wieder neu zu regeln.

Die heutige “Sozialmedizin” kann, z.B. auch in Form der bevölkerungsmedizinisch und interdisziplinär ausgerichteten Fachrichtung “Public Health“, dazu beitragen, die Definition sozialer Gerechtigkeit weiter zu entwickeln und die sozialen Verhältnisse im Sinne einer allgemeinen Gesundheitsförderung zu beeinflussen.

Eine sozialmedizinische Perspektive setzt die medizinischen Fakten (Diagnose, Krankheitsstadium, Prognose etc.) in Beziehung zu sowohl sozialversicherungs- und sozialleistungsrechtlichen Vorgaben als auch zu den gesundheitsrelevanten Rahmenbedingungen des Einzelfalls oder der jeweils zu betrachtenden Bevölkerung/Gruppe.

Sozialmedizinische Betrachtung ist immer interpretierende Wichtung der Fakten – somit eine Wissens-basierte und durch Wert-Entscheidungen mitbestimmte Tätigkeit. Daher können sozialmedizinische Einschätzungen trotz scheinbar gleicher medizinischer Ausgangslage (gleicher Diagnose) zu unterschiedlichen Empfehlungen führen.

Leistungsanträge an die gesetzliche Kranken-, Unfall- oder Rentenversicherung oder an einen sonstigen öffentlichen Versorgungsträger sind ein Aufgabenfeld der angewandten Sozialmedizin oder Sozialversicherungsmedizin. Ebenso wie bei sozialmedizinischen Einschätzungen im Bereich der öffentlichen Gesundheitspflege, erfolgen sozialmedizinische Einzelfall-Empfehlungen unter Berücksichtigung biologisch-medizinischer Kriterien sowie sozialer und umweltgebundener Kontextfaktoren und individueller Gesundheitskompetenzen.

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