Allgemeine Gesichtspunkte
Ein sozialmedizinisches Einzelfall-Gutachten sollte auf den, für die Fragestellung relevanten gesetzlichen Grundlagen, der Krankheits- oder Behinderungsdiagnose und den gegenständlichen medizinischen Maßnahmen basieren. Diese müssen in einen Zusammenhang gestellt werden, wobei zu jedem Punkt die Begutachtungskriterien im Detail zu erläutern sind.
Dabei ist zu berücksichtigen, dass die gutachterliche Stellungnahmen verschiedene Adressaten hat:
Zum einen richtet eine sozialmedizinische Begutachtung sich natürlich an die Auftraggeber (Krankenkasse) – aber auch an ggf. andere Gutachter, sofern es im Verfahrensgang zu weiteren Begutachtungen kommt. Sozialmedizinische Gutachten müssen aber auch für behandelnde (in eine Antragstellung involvierte) Kolleginnen und Kollegen verständlich und nachvollziehbar sein. Zusätzlich sind betroffene Antragsteller, in der Regel also Patientinnen oder Patienten (und ggf. auch Angehörige) ebenfalls wichtige Adressaten eines sozialmedizinischen Gutachtens.
Darüber hinaus muss ein sozialmedizinisches Gutachten, insbesondere dann, wenn vom Antrag abweichende Empfehlungen ausgesprochen werden, auch auf die Versorgungsrealitäten und -Rahmenbedingungen im konkreten Einzelfall eingehen. Maßnahmen und Versorgungen, die z.B. im geographischen Umfeld gar nicht zur Verfügung stehen, können nicht als “Standardversorgung” empfohlen werden. Empfehlungen für entfernte und – für die betroffenen Antragsteller – schlecht erreichbare Behandlungsorte bedürfen weiterer Erläuterungen mit Informationen zu Zugangshilfen.
2013 wurde auf einer Tagung der Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen Bremen e. V. in Hannover (“Robert-Koch-Tagung”) das Manual einer Arbeitsgruppe “Qualitätssicherung Gutachten im Kinder- und Jugendgesundheitsdienst” für die Begutachtung von Frühförderungsmaßnahmen vorgestellt. In der Folge wurde ein Manual für die entsprechende, spezifische Form der sozialpädagogischen und sozialmedizinischen Begutachtung erstellt. Einige der Ergebnisse können auf die sozialmedizinische Begutachtung bei diagnostischen und therapeutischen Fragestellungen, auch bei Erwachsenen, übertragen werden.
Abgeleiteter “Qualitätskriterienkatalog” für die sozialmedizinische Begutachtung
Ausgehend von dem vorgenannten Manual lassen sich Anforderungen an die Qualität sozialmedizinischer Begutachtung formulieren, wonach ein qualitativ hochwertiges sozialmedizinisches Gutachten – in Abhängigkeit von der Fragestellung im Einzelfall – u.a. folgendes enthalten sollte:
- Generell eine Adressaten-gerechte Darstellungsweise.
- Informationen zum formal sozialrechtlichen Hintergrund.
- Informationen zu Regelleistungs-Angeboten der GKV bei der gegenständlichen Erkrankung.
- Informationen zum aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisstand.
- Einordnung der gegenständlichen Erkrankung hinsichtlich Schweregrad und Prognose.
- In Abhängigkeit von der Fragestellung im Einzelfall kann es auch notwendig sein, die Relevanz medizinischer Details (Laborwerte, Bildbefunde, Test-Ergebnisse, sonstige Körpermeßwerte usw.) im Rahmen der jeweils begutachteten Sachverhalte einzuordnen.
- Einordnung der Gesundheitsstörung im Einzelfall hinsichtlich ihrer funktionalen Auswirkungen auf Lebensgestaltung, Teilhabe und Erwerbsfähigkeit, ggf. auch fokussierte Zusammenstellungen von ICF-Kriterien.
- Einordnung des Gesundheitsproblems im Einzelfall in den Zusammenhang mit allgemeinen und regionalen Strukturen des Gesundheitssystems und persönlichen Lebenswelt-Faktoren / gesundheitliche Rahmenbedingungen (z.B. Möglichkeiten ambulanter Versorgung am Wohnort; geographische Verteilung von Expertenzentren für bestimmte Erkrankungen; berufliche und/oder familiäre Belastungen; Hemmnisse oder möglicherweise aktivierbare fördernde Faktoren etc.)
- Darstellung der Behandlungsoptionen unter Heranziehung medizinischer Leitlinien oder Standard-Lehrmeinungen, falls für die Begutachtungs-Fragestellung von Belang. Ggf. auch Erläuterung zur erkrankungsspezifischen medizinischen Versorgungsqualität.
- In entsprechenden Einzelfällen, spezifische Informationen, wie Hinweise auf regionale medizinische Angebote oder Angaben zu Voraussetzungen und Zugangswegen für empfehlenswerte Versorgungen.
Begutachtungsleitfäden, -Anleitungen, -Leitlinien, die sich an den genannten Punkten orientieren, würden nicht dazu führen, dass bei gleichartiger sozialmedizinischer Fragestellung auch immer ein gleiches Ergebnis der Begutachtung resultieren würde.
Das Ziel, dass bestimmte Fragestellungen auch immer zu gleichlautenden sozialmedizinischen Ergebnissen führen, wäre nur erreichbar, wenn Besonderheiten des Einzelfalles in der Begutachtung keine Berücksichtigung finden würden.
Begutachtungsleitfäden, -Anleitungen, -Leitlinien, die sich an den oben genannten 13 Punkten orientieren, könnten aber dazu führen, dass bei gleichartiger sozialmedizinischer Fragestellung auch ähnliche gutachterliche Betrachtungsweisen erkennbar würden und dass die Maßstäbe der Begutachtung für die Gutachten-Adressaten eindeutig erkennbar und nachvollziehbar wären.
Leitlinien für die (sozial)medizinische Begutachtung
- Deutsche Gesellschaft für Neurowissenschaftliche Begutachtung e.V. (DGNB), weitere Fachgesellschaften in der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlicher medizinischer Fachgesellschaften (AWMF): Leitlinie Allgemeine Grundlagen der medizinischen Begutachtung.
- Deutsche Gesellschaft für Neurowissenschaftliche Begutachtung e.V. (DGNB), weitere Fachgesellschaften in der Arbeitsgemeinschaft wissenschaftlicher medizinischer Fachgesellschaften (AWMF): S2k-Leitlinie Ärztliche Begutachtung von Menschen mit chronischen Schmerzen („Leitlinie Schmerzbegutachtung“).
- DRV Manual: Qualitätssicherung der sozialmedizinischen Begutachtung. Herausgeber: Deutsche Rentenversicherung Bund. September 2018. Ergänzend dazu wurde als Band 21 der Reihe “DRV-Schriften” auch ein Band “Das ärztliche Gutachten für die gesetzliche Rentenversicherung” als Sonderausgabe von der DRV herausgegeben.
- Dort heißt es auf Seite 20:
- Ein sozialmedizinisches Gutachten muss nach Feststellung des Bundessozialgerichtes alle medizinischen Aussagen enthalten, die für die Entscheidung über Anträge auf Leistungen zur medizinischen Rehabilitation oder zur Teilhabe am Arbeitsleben bzw. Rente wegen Erwerbsminderung ausschlaggebend sind. Dabei haben Gutachter stets darauf zu achten, dass sie weder ihre medizinische Fachkompetenz noch den Rahmen des Gutachtenauftrages überschreiten. Gutachter sollen zwar Kenntnisse der rechtlichen Grundlagen haben, als medizinische Sachverständige haben sie sich jedoch allein auf medizinische Aussagen zu beschränken. Die Feststellung einer Erwerbsminderung ist Aufgabe der Verwaltung des Rentenversicherungsträgers.
- Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation e.V. (BAR): Gemeinsame Empfehlung Begutachtung.
Artikel und Internet-Beiträge zu Qualität und Inhalten (sozial)medizinischer Gutachten
- Bahlmann-Duwe J, Hartwig C, Jahnke C, Lührs V, Pein D, Schmidt S, Tasche H, Thiel C. Leitfaden für die Sozialmedizinische Begutachtung zur Frühförderung – Prozess der Gutachtenerstellung. Gesundheitswesen 2014; 76 – V23. DOI: 10.1055/s-0034-1371576.
- Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung e.V. (DGUV): Leistungsgrundsätze und Begutachtung.
- Deutsche Vereinigung für Rehabilitation (DVfR): Prof. Dr. Martin Brussig, IAQ, Universität Duisburg-Essen, Vortrag vom 08.06.2018: “Zur Organisation sozialmedizinischer Gutachten im Erwerbsminderungsrentenverfahren“.
- Fachgesellschaft Interdisziplinäre Medizinische Begutachtung e.V.
- Michael Staudt, Fraunhofer-Informationszentrum Raum und Bau IRB: Anforderungen an ein Gutachten. (Der Aufsatz betrifft eigentlich Baugutachten; ist aber sehr generell und kann auch auf andere Arten von Gutachten übertragen werden)
- Vortragsfolien von Peter F. Brückner, Präsident des Sozialgerichts LSG NRW, vom Essener Sozialgerichtsforum im September 2012: “Begutachtung bei Beteiligten mit Migrationshintergrund aus richterlicher Sicht”.
- Wikipedia(de): Gutachten
- Wikipedia(de): Peer Review