Sozialgericht und Verfassungsgericht

Es gibt offenbar eine weit verbreitete Einschätzung, wonach das Bundesverfassungsgericht dafür zuständig ist, die Arbeit anderer Gerichte; unter anderem auch der Sozialgericht (einschließlich des Bundessozialgerichts) zu kontrollieren und bei Fehlern einzuschreiten.

Obwohl selber Nicht-Jurist, wage ich es, Zweifel an dieser Einschätzung zu äußern. Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts, so scheint es mir, ist die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und Urteilen – nicht die Frage, ob ein Gericht im Einzelfall alles richtig gemacht hat.

Leider werden von vielen Menschen, einschließlich Journalisten und sogar Juristen[!], Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen immer wieder dahingehend interpretiert, dass Verfassungsgericht habe in einer Sache XYZ eine Entscheidung getroffen – auch, wenn das Verfassungsgericht lediglich festgestellt hatte, dass es gar nicht zuständig war. Anscheinend möchte niemand zur Kenntnis nehmen, wenn der Grund für die Nicht-Annahme einer Klage durch das Bundesverfassungsgericht einfach darin liegt, dass diese keine verfassungsrechtlichen Fragestellungen betraf.

Regelhaft, so scheint es mir, werden Nicht-Annahme-Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts als Entscheidungen in der Sache interpretiert. Zuletzt so geschehen in einem Fall, zu dem unter dem Aktenzeichen 1 BvR 1790/23 vom Bundesverfassungsgericht am 25.09.2023 der Nicht-Annahmebeschluss erfolgte.

Der Pressemitteilung des Bundesverfassungsgerichts zu dem Fall bzw. dem Nicht-Annahmebeschluss kann folgendes entnommen werden:

Die Verfassungsbeschwerde ist unzulässig, da sie nicht den Darlegungsanforderungen, die aus § 23 Abs. 1 Satz 2, § 92 BVerfGG folgen, genügt. […]
Der Beschwerdeführer hat nicht hinreichend dargetan, dass die Feststellung und Würdigung des Sachverhalts, die grundsätzlich Sache der Fachgerichte ist, schlechterdings unvertretbar wäre oder auch nur deutliche Fehler enthalten würde. Im Wesentlichen setzt er der Würdigung des Landessozialgerichts die eigene Würdigung entgegen.

Das Bundesverfassungsgericht distanziert sich in seinen Ausführungen eindeutig von jeder Einmischung in die Feststellung und Würdigung des Sachverhalts, die grundsätzlich Sache der Fachgerichte ist…

Leider finden sich jedoch in den Medien allenthalben Kommentare, die geeignet sind, die Leser glauben zu machen, das Bundesverfassungsgericht habe den Anspruch eines todkranken Kindes auf eine Arzneimitteltherapie außerhalb des zugelassenen Anwendungsbereiches abgelehnt.

So schrieb z.B. die Ärztezeitung vom 04.10.2023:

Mit dem neuen Beschluss zu einem Kleinkind mit Morbus Tay-Sachs wurde aus der „nicht ganz entfernt liegenden Aussicht“ nun ein „Mindestmaß an wissenschaftlicher Datenlage“.
Eine Empfehlung von Spezialisten, weil die Krankheit des Kindes der sehr ähnlich ist, für die das Medikament zugelassen ist [r]eicht nicht, sagt das Landessozialgericht Celle. Völlig in Ordnung und verfassungsrechtlich unbedenklich, sagt das Bundesverfassungsgericht.

Tatsächlich hat das Bundesverfassungsgericht nicht gesagt, ob es die Entscheidung des Landessozialgerichts in der Sache “völlig in Ordnung” findet. Es hat nur gesagt, dass es bei diesem Sozialgerichtsverfahren nicht um verfassungsrechtlich zu klärende Fragen ging. Da das Verfassungsgericht nicht festgestellt hat, dass von dem Landessozialgericht die Verfassung verletzt wurde, konnte es zu den weiteren Inhalten des Verfahrens gar keine Stellung beziehen.

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